Wieder bleiben wir beim guten alten Hund. Der Hund begleitet uns seit tausenden von Jahren, und hat das Selbe mitgemacht wie wir: mit uns kam er aus einer Welt, in der wir nur eine Spezies unter vielen waren, in eine Zeit hinein, in der wir eine Hochkultur wurden, und das „Gesicht“ der Erde verändert haben. Unsere Umwelt haben wir im großen Stil verändert, wir leben zu Millionen in großen Städten. Unsere Natur, unser Inneres und unsere Sozialität sind aber noch die Gleichen wie damals geblieben.
Dabei haben wir Herrschaftsformen entwickelt, und uns Mensch und Tier Untertan gemacht. Wir haben sie – Mensch wie Tier – in großem Stil zu einer Sache degradiert und auch als solche behandelt: rücksichtslos und grausam. Zumindest lehrt uns das die Geschichte.
Doch sowohl in der Tier- als auch in der „Menschhaltung“ hat ein Umdenken stattgefunden. Tier– und Menschenrechte wurden aufgestellt. Was bei den Menschen ein komplexes Theoriegebäude geworden ist, ist bei den Tieren auf einen Begriff reduziert worden: „artgerecht“.
Irgendwann, nachdem sich Menschen mit der Tierhaltung auseinandergesetzt hatten, haben wir uns überlegt, wie man Tiere so hält, dass man nicht das Gefühl hat, man würde sie grausam und qualvoll behandeln.
Anfangs wurde der Begriff „artgemäß“ verwendet, „um rechtliche Mindestanforderungen an die agrarische Tierhaltung zu legitimieren.“ Was dazu geführt haben mag: die menschliche Empathie vielleicht, die in den Tieren das sehen kann, was ihnen widerfährt? Jedenfalls geht es um den Gegensatz derer, die sich in die Tiere hinein versetzen können und derer, die an deren Haltung profitieren und ein Minimum an Kosten dem Mitgefühl vorziehen.
Was sind die Grundlagen? Man geht davon aus, dass Tiere körperlich und geistig an die Umwelt angepasst sind, in der sie sich entwickelt haben, und in der sie von Natur aus leben. Der Widerspruch dazu in der industriellen Tierhaltung oder auch in Zoos hat dazu geführt, dass der Gesetzgeber eingeschritten ist, und Regeln aufgestellt hat, die sich an „artgerechter“ Haltung orientieren. Warum? Das Mitgefühl, wenn man die Tiere in der Situation der Gefangenschaft beobachtet, ist individuell unterschiedlich, je nachdem, wie viel Empathie man entwickeln konnte. Im Laufe der Jahre hat jedoch auch die Forschung neue wissenschaftliche Erkenntnisse hervorgebracht, angesichts derer das Negieren schwieriger wurde, und die in der Umsetzung neu erkannter Ansprüche mündete.
Mittlerweile hat das Ganze einen gesetzlichen Rahmen – man kann Anzeige erstatten, wenn als „artgerecht“ definierte Haltungsbedingungen nicht eingehalten werden, oder im Alltag: wenn Tierquälerei beobachtet wird. Um wieder zum Hundebeispiel zu kommen: „Kupieren“ ist mittlerweile verboten, denn es „fügt dem Tier langanhaltende Schmerzen zu, die nicht auf einem vernünftigen Grund beruhen.“ Die sogenannte „Kettenhaltung“ ist nicht mehr erlaubt, man darf Hunde im Notfall aus einem geparkten Auto befreien.
Man hat also erkannt, dass jedes Tier eine arteigene Lebensweise hat, und dass man es quält, wenn man ihm nicht die Möglichkeit gibt, dementsprechend zu leben – seine Bedürfnisse zu erfüllen, und seine Würde zu achten. In unserer Welt sind die Tiere unserem Wohlwollen ausgeliefert – wir können sie nicht nur physisch am Leben halten, die Lebensbedingungen müssten auch die Psyche zufrieden stellen.
Was den Hund angeht: das Thema mit der Leine, dem Futter oder der Kastration kann man durchaus unterschiedlich beurteilen – es kommt dabei darauf an, was man als grundsätzliche Absicht im Hinterkopf hat. Will ich es artgerecht und so schonend tun, dass das Tier ein glückliches, erfülltes und langes Leben hat?
Wichtig ist bei der Überlegung auch, wie wir dabei Unterschiede machen: wir haben Tiere, die mit uns auf engstem Raum leben, wie Katzen und Hunde, und solche, die wir ausbeuten, in weit entfernten Fabrikanlagen hinter Maschendrahtzaun und Sicherheitstüren. Erste streicheln und lieben wir, letztere versuchen wir auszublenden und zu vergessen. Die Tiere, die uns umgeben und die wir täglich sehen, behandeln wir mehr oder weniger artgerecht, die Tiere, dir wir ausbeuten, behandeln wir als Ware und verneinen ihr Bewusstsein und Gefühlsleben – „Artgerechtigkeit“ wird hier nur von zuständigen Fachleuten oder Aktivisten kontrolliert.
Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandeln.
Mahatma Gandhi
Was nun den Menschen betrifft: wie steht es um die „artgerechte Menschhaltung“? Welchen Grundsatz legen wir unserer Beurteilung der Lebensumstände zu Grunde? Ist es nicht, dem Leben einen Sinn zu geben, glücklich zu sein und ein langes und gesundes Leben? Bei den Tieren fällt es uns leicht, zu definieren, wie sie leben sollten. Wir gleichen ihre natürliche Herkunft mit ihren Lebensbedingungen ab. Durch die Beobachtung der Natur haben wir gelernt, warum sie sich wie verhalten. Ideologisch geprägte Diskussionen gibt es hier nur, wenn beispielsweise der Tierhalter aus Kostengründen andere Argumente in den Vordergrund stellt als der Tierschützer.
Und beim Menschen: auch hier haben wir früher ausgepeitscht, aufgehängt und misshandelt, und Tausende in Kriegen „verheizt“. Bürgerkriege und Revolutionen haben dann bewirkt, dass Leibeigenschaft und Sklaverei, sowie menschenverachtende Behandlung zumindest theoretisch Verboten wurden. Wir haben einen Katalog an Menschenrechten aufgestellt, die in verschiedenen Teilen der Welt mehr oder aber auch weniger durchgesetzt werden. Außerdem fließen unzählige Ideologien mit in die Beurteilung der menschlichen Ansprüche ein – es ist hier ungleich schwerer, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu einer angemessenen Gewichtung zu verhelfen.
Zurück zu mir und unserem Hund: wir hatten uns da also dafür entschieden, unseren Hund als gleichrangiges Familienmitglied zu akzeptieren, und nicht als „Maschine“, die sich immer nur unterzuordnen und zu gehorchen hat. Wir berücksichtigen seine Bedürfnisse und lassen sie in die Tagesplanung einfließen. Was Ernährung und Beschäftigung angeht, wollen wir seine Natur und die damit verbundenen Ansprüche zu Grunde legen. Daher unsere bereits erwähnte Entscheidung für Nassfutter, Geschirr und Kastration. Den Entscheidungen liegt also ein bestimmtes Bewusstsein zu Grunde, das die Auswahl zwischen den Möglichkeiten eindeutiger macht. Die Möglichkeiten konnten wir uns durch aktives Informieren erarbeiten und zusammentragen.
Wieder zurück zu uns Menschen: wir bestimmen selbst unsere Haltungsbedingungen. Oder? Lassen wir sie bestimmen, von unseresgleichen? Welche Einstellung zum Tier „Mensch“ liegt dabei zu Grunde? Was braucht der Mensch, um artgerecht leben zu können? Wann beschäftigen wir uns damit, und woher erhalten wir die entsprechenden Informationen?
Diese Fragen beschäftigen Philosophie, Soziologie und Psychologie, es forschen Anthropologen und Verhaltensforscher. Mit einem Milliardenbudget analysiert die Werbeindustrie unser Verhalten, unsere Bedürfnisse und Entscheidungsgrundlagen – und erschafft künstliche Bedürfnisse, die auf Natürlichen beruhen. Propaganda, PR und Werbepsychologie gehen mittlerweile Hand in Hand, die Erkenntnisse werden wechselseitig genutzt. Gleichzeitig leben Milliarden Menschen weit unter dem Lebensstandard, den „wir“ hier haben. Deren Grundbedürfnisse werden nicht oder nur teilweise befriedigt, sie leben nicht artgerecht – und hier haben wir künstliche Bedürfnisse erschaffen, die dafür sorgen, dass wir auch nicht artgerecht leben – und dass Erstere nicht artgerecht leben können, weil sie am Anfang unserer Produktionskette stehen.
Was ist also eine „Meinung“ zum Zustand der Welt? Willst du dass es allen Menschen glücklich leben können, oder nur einige? Ist die Welt so wie sie ist in Ordnung, und wir können so weiter machen – oder ist es eine brutale und rücksichtslose Welt, in der wir Glück oder Pech haben, wann und wo wir geboren werden? Welche Kräfte uns Strömungen auf dieser Welt arbeiten in die eine oder andere Richtung? Entfremdet oder artgerecht? In welche Richtung beeinflusst dein tägliches Handeln die Welt? Entspricht dein eigenes Handeln dem, was du für richtig und falsch hältst? Für gerecht oder unfair? Fügst du anderen zu, was dir selbst oder deiner Familie nicht zugefügt bekommen soll? Wenn du Hilfe von anderen erwartest, bist du auch bereit Hilfe zu geben? Wie argumentierst du, wenn das Gespräch auf dieses Thema kommt?
Fragen, zu denen man keine Antwort geben kann, die in die 3 Sätze passen, die ein Politiker vor laufender Kamera von sich gibt, oder die an Stammtischen ausgesprochen werden. Vielleicht sollte man darauf auch keine Antworten geben, sondern sich schlau machen, und eine Meinung entwickeln, die haltbar ist – den eigenen Verstand nutzen. Die Antworten kommen dann möglicherweise von ganz allein. In welche Länder wir beispielsweise Waffen liefern, aus welchen Ländern wir Rohstoffe gewinnen, und woher die Geflüchteten kommen. Und warum sie nicht in ihrer Heimat bleiben, und wie hoch wir unsere „Werte“ halten, wenn es um Hilfe geht.
Das Unglück ist, dass jeder denkt, der andere ist wie er, und dabei übersieht, dass es auch anständige Menschen gibt.
Heinrich Zille
Darauf hinzuweisen, wo Widersprüche zwischen Denken und Handeln, Theorie und Praxis, Behauptungen und Realitäten bestehen, und Themen ins Gespräch zu bringen, über die man nachdenken sollte – das möchte ich mit diesem Blog versuchen. Damit vielleicht eines Tages mehr Besserwisser dazu beitragen, unsere Welt besser zu machen.