Manchmal ist das ganz einfach: wenn ich eine Erkältung habe, mit einem klassischen Schnupfen, merke ich das an den entsprechenden Anzeichen – Kratzen im Hals, Nase zu und läuft, Druck im Kopf, Schwächegefühl. Also dann ab zur Apotheke: schmerzstillende Pastillen – und die Halsschmerzen sind weg. Nasenspray rein – und schon kann ich wieder frei Atmen, und die Nase hört auf zu laufen. Druck im Kopf und Schwächegefühl – da gibt es dann diverse Kombipräparate, die einen im Handumdrehen top fit machen, und man kann direkt wieder durchstarten. Da ist die Erkältung ganz schnell wieder weg. Oder?
Ist die Erkältung wirklich weg, wenn ich ihre Anzeichen, die typischen Erkältungssymptome, abschalte? Was ist eigentlich eine Erkältung?
Wie immer kurz mal bei Wikipedia vorbei geschaut: Es handelt sich um „alltagssprachliche, medizinisch nicht scharf definierte Bezeichnungen für eine akute Infektionskrankheit der Schleimhaut von Nase (einschließlich der Nebenhöhlen), Hals oder Bronchien.“ Weiter heißt es: „Ob nach einer solchen Infektion tatsächlich eine Erkrankung auftritt, hängt von der Menge und Virulenz der Erreger und vom Zustand des Immunsystems der betroffenen Person ab. Die Beobachtung, dass bei Erkältungen keineswegs alle Kontaktpersonen ebenfalls erkranken, hat verschiedene Ursachen. […] Insofern können Faktoren, welche die Funktion des menschlichen Immunsystems insgesamt schwächen, auf den Verlauf einer Erkältung durchaus Einfluss nehmen. Dazu zählen unter anderem chronische Erkrankungen, eine medikamentöse immunsuppressive (das Immunsystem unterdrückende) Behandlung wie beispielsweise nach Organtransplantationen, Drogenmissbrauch (auch Nikotin und Alkohol), Mangelernährung, eine ungesunde Ernährung, Umweltgifte, chronischer Stress, zu wenig Schlaf, Bewegungsmangel, Übertraining beziehungsweise Überarbeitung, Reizung oder Schwächung der Schleimhäute durch trockene Luft oder Staubentwicklung. […] Dabei kann eine Kombination von mehreren Faktoren eine verstärkte Belastung für das Immunsystem darstellen.
Ein besonders gut untersuchter Erkrankungsauslöser ist akuter Stress. Viele Erkältungssymptome treten zwei bis drei Tage nach emotional stark belastenden Ereignissen auf, wobei die zeitliche Verzögerung dadurch zu erklären ist, dass dem Erkältungsausbruch eine entsprechende Inkubationszeit vorausgeht.“
Aha, die Schnupfnase, das Halskratzen, die Kopf- und Gliederschmerzen sind also die Symptome einer Erkältung, bei der das Immunsystem gegen Krankheitserreger kämpft, die sich ausbreiten konnten, weil das Immunsystem geschwächt worden war. Wenn ich also diese äußeren Anzeichen abschalte – die Nase zum Abschwellen bringe, den Hals betäube, und mir Fitmacher einwerfe – ist der Kampf des Immunsystems also nicht beendet, die Erkältung also noch da?
„Die Hälfte aller Fälle sind nach 10 Tagen ausgestanden, 90 Prozent nach 15 Tagen.“ – so lange dauert das also, egal ob ich die Symptome unterdrücke oder nicht. Ein Blick auf die Ursachen würde hier genügen, um eine mögliche Therapie zu erschließen, und Möglichkeiten der Vorbeugung zu erkennen: den Körper nicht „vergiften“, gesunde – also „artgerechte“ – Ernährung, ausreichend Bewegung und Schlaf, weniger Stress. Das steht nun aber nicht im Einklang mit dem Zustand, in den ich unsere (Arbeits-)Welt verändert hat: industriell gefertigte Nahrung, da echtes Kochen zu zeitaufwändig ist; Sitzen am Arbeitsplatz, im Auto, vor dem Fernseher; Stress in Beruf und Freizeit.
Müssten wir also unsere Welt verändern, als Ursache, und nicht die Symptome unterdrücken?
Naja, wegen so einem Schnupfen, das ist jetzt schon etwas übertrieben, oder?
Wir haben da ja noch die sogenannten „Zivilisationskrankheiten“. Diese kommen in anderen Teilen der Welt, die wir als weniger zivilisiert betrachten, nicht vor, und sind gänzlich unserem „westlich-ziviliserten“ Lebenswandel geschuldet: Karies, Herz-und Gefäßkrankheiten, Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, Gicht. Und weil wir das nicht anders kennen, betrachten wir diese Krankheiten, übrigens auch beim Tier, als normal und zum Leben gehörig. Wir gehen im Alltag davon aus, dass diverse Krankheiten ganz natürlich im Alter auftreten, und haben den Umgang damit in unsere Kultur und Gesellschaft integriert. Das Behandeln der Symptome ist nicht nur ein fester Bestandteil unseres Lebenswandels geworden, sondern auch eine gute Einkommensquelle für die Pharmaindustrie und eine unglaubliche Belastung für die Gesundheitssysteme.
Sollten wir diesen Krankheiten vorbeugen? Einfach um Leid und Unglück zu mindern? Sollen wir also die Ursachen anpacken, und nicht die Symptome?
Was gibt das Wiki über die „Ursachen“ her? „Zuckerkonsum, Zigarettenrauch/Nikotin, Alkohol, Bewegungsmangel, Über- und Fehlernährung, Umweltgifte, Lärmbelastung, Stress, soziale Faktoren (z. B. Arbeitslosigkeit, Vereinsamung), übertriebene Hygiene (s. Hygienehypothese der Allergieentstehung), bestimmte Normen und Ideale (z. B. Leistungsdruck, Schlankheitsideal), mediale Reizüberflutung.“ Aha. Hatten wir uns nicht über das Thema „artgerecht“ Gedanken gemacht? Ist nicht ein großer Teil dieser Punkte der nicht artgerechten „Menschhaltung“ geschuldet? Und der andere Teil der neoliberalen Weltordnung, möglicherweise? Und sind die genannten Punkte nicht auch eher weitere Symptome einer anderen Ursache?
Welches Umdenken wäre also nötig, um die Ursachen anstelle der Symptome anzugehen? Nur mal ganz kurz: möglichst wenig Zucker konsumieren? Zigaretten und Alkohol weglassen? Sich mehr bewegen? Sich gesund ernähren? Stress abbauen? Die gesellschaftlichen Normen überdenken? Etwa seine Einstellung ändern?
Mit Verwunderung wird man feststellen, dass die „Lenker“ unserer Gesellschaft scheinbar das Ganze nicht kapiert haben, oder es nicht kapieren wollen? Also Ursachen und Symptome abzugleichen? So wie die Werbung der Pharmaindustrie nicht eine radikale Umstellung des Lebenswandels propagiert, sondern den Erwerb des Produktes, das die Symptome lindern soll?
Als Beispiel möchte ich hier mal kurz auf die Drogenpolitik eingehen. Die Drogenhilfe geht davon aus, dass es Voraussetzungen für Drogensucht gibt – beispielsweise ein Trauma in der frühen Kindheit, das die Betroffenen ständig belastet, und deren Drogenkonsum die Symptome des Traumas lindert. Eine Drogenpolitik, die Abhängigkeit und Drogentote verhindern will, müsste doch daran interessiert sein, die Ursachen zu bekämpfen. Was tut sie jedoch? Es wird der „Krieg gegen Drogen“ geführt, der seit den 1950ern bis heute nichts gebracht hat: Drogen werden nach wie vor in allen Gesellschaftsschichten konsumiert, es gibt sie in Gefängnissen, in Militärbasen, in den Regierungsgebäuden. Durch die Kriminalisierung und Stigmatisierung verdienen mafiöse Strukturen damit ihr Geld, und die staatlichen Bekämpfungsbehörden kosten Unmengen an Zeit und Mitteln. Modelle aus anderen Staaten zeigen, dass andere Wege des Umgangs viel effizienter sind.
Wenn nun das Management einer Firma oder der Trainer einer Fußballmannschaft ständig schlechte Ergebnisse einfährt, wird schnellstens ein Nachfolger präsentiert, der es besser machen soll. Doch in der Drogenpolitik wird der selbe nutzlose Pfad beständig fortgeführt, und alle Organisationen, staatlich oder spendenfinanziert, haben fortwähren mit der „Symptombekämpfung“ zu tun (Therapien, Betreuung, Sorgerechtsentzug usw.). Umgekehrt betrachtet: Projekte aus anderen Ländern zeigen, dass es andere Modelle gibt, die wirkungsvoller sind. Wäre zum Beispiel Marihuana legal, könnte der Staat daran steuern verdienen, Mafiakreise würden damit kein Geld mehr verdienen, und die Polizei hätte Kapazitäten frei für andere Probleme, die dringend angegangen werden müssten.
Warum halten wir da immer an der alten „Denke“ fest, obwohl sie keine Besserung bewirkt? Warum machen wir uns nicht bewusst, dass Symptombehandlung allein sinnlos ist, sondern auch die Ursachen angegangen werden müssen?
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
Albert Einstein (angeblich)
Wie steht es mit Armut? Armut wird in der Regel von jedem bedauert, wenn man Meldungen in den Medien zur Armut betrachtet. Auch hier: was sind die Ursachen der Armut? Und wie gehen „wir“ dagegen vor? Sind „wir“ nicht die Verursacher der Armut, und haben unseren „Lebensstandard“ darauf aufgebaut? Was machen wir aber: die Symptome bekämpfen – wir schotten uns ab, im Kleinen wie im Großen. Die Ursachen bleiben bestehen und verschlimmern sich, und wir Spenden dafür, dass die Symptome in den Griff bekommen werden. Die Banken und Großkonzerne spekulieren mit Lebensmitteln, verknappen und verteuern sie, und die Entwicklungshilfefonds spenden Geld und Lebensmittel in die betroffenen Gebiete.
Und wo wir schon bei „betroffenen Gebieten“ sind: noch schrecklicher als Armut empfindet im Alltag jeder den Krieg. Niemand wünscht sich, im Krieg zu leben, doch wir „exportieren“ ihn munter weiter – in Form von Rüstungsgütern und auch aktiver militärischer Mithilfe. Unsere „Wertegemeinschaft“ beruft sich unter Anderem auf religiöse Werte, die sich explizit gegen das Töten aussprechen. Was sind die Ursachen von Kriegen? Wie tragen „wir“ zu diesen Ursachen bei? Und wie lange schon? Wir haben ganze Gesellschaftsteile für Rüstung und Militär mobilisiert, der Einfluss der Rüstungslobby auf Politik und Gesellschaft ist überdurchschnittlich groß. Welche Ursachen müsste man „bekämpfen“, damit weltweit Kriege der Vergangenheit angehören?
Was wir jedoch tun: wir halten in der Theorie die Fahne der zivilisierten und freien ersten Welt hoch, begründen aus dieser Haltung heraus Angriffe auf „Regimes“ und „Despoten“, nutzen aber ohne Skrupel die selben Methoden und Vorgehensweisen. Wir manipulieren und lügen. Wir bringen Elend und Tod über Menschen. Und „wir“ als Steuerzahler bezahlen das und die Profiteure bekommen Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Am Ende des Tages ist dann vor Ort oft alles schlimmer als vorher, lediglich die Bodenschätze wurden „gerettet„.
Und hier kommt dann das nächste Symptom unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ins Spiel: Flucht und Migration. Die Armut und die Kriege, die wir verursachen, und die geschichtliche Entwicklung, die wir der Welt auferlegt haben, das sind die Ursachen für die Flucht von Menschen aus ihrer Heimat. Niemand möchte seine Heimat verlassen. Hier hat man Freunde, Verwandte und seine vertraute Umgebung. Welche Gründe veranlassen Menschen zur Flucht? Haben wir Einfluss auf diese Gründe? Unsere Einflüsse sind wirtschaftlich und militärisch, und wir tragen das stets aufs Neue mit. Hier erstarkt nun eine Politik, die die Ursachen, die wahre „Mutter aller Probleme„, nicht anpacken wird, sondern verschlimmern – und die den Frust und Unmut der Menschen über ihre Verhältnisse gegen die Migranten bzw. Geflüchteten richtet. Beim Schnupfen wäre das dann so, als würde man die Schuld an der Erkrankung der roten Nase geben, und sie einfach überschminken. Es geht also wieder gegen die Symptome, und nicht die Ursachen. Alles wie gehabt.
Allerdings ist mittlerweile, im Vergleich zum Schnupfen am Anfang, die Problematik der Ursachen wesentlich komplexer geworden. Jedoch hat trotzdem die Mehrheit der Menschen eine feste Meinung dazu, ungeachtet davon, wie tief sie tatsächlich in die Zusammenhänge „eingestiegen“ ist.
Was machen „wir“, wenn zum Beispiel ein schweres Unglück passiert, meinetwegen ein Zug– oder Flugzeugunglück? Es werden peinlich genau die Ursachen erforscht: Materialfehler, technisches oder menschliches Versagen? Dann werden Produktionsmethoden grundsätzlich überdacht, Techniken überarbeitet und verbessert, die Ansprüche an das Personal erweitert. Warum das Ganze? Um das Vertrauen der Nutzer aufrecht zu halten? Zu zeigen, dass man Menschenleben als so wertvoll erachtet, dass ein Unglück kein weiteres Mal passieren soll?
Echtes Wissen ist die Ursachen kennen.
Sir Francis von Verulam Bacon
Was ist nun mit der Gesellschaft und unserer Lebensweise? Sie bringt uns und dem Rest der Welt Probleme. Sie ist nicht artgerecht, das haben wir ja längst festgestellt. Sie ist jedoch auch selbstzerstörerisch, menschenverachtend, heuchlerisch und egoistisch. „Wir“ sind die Ursache des Problems – die Vorgänge in unserer Welt und deren Einfluss auf unseren Alltag sind die Symptome. Und wir betreiben Tag für Tag munter weiter das Bekämpfen dieser Symptome. Ist das nicht verrückt? Wir müssen umdenken, wenn wir tatsächlich den Kurs gegen die Wand verhindern wollen. Einfach so weiter zu machen ist keine Alternative.